Regelmäßige Besucher des Botanischen Gartens werden sich noch an die alte, etwa 4,5 Hektar große Systemanlage erinnern. Sie wurde nach Vorstellungen des russischen Pflanzensystematikers Armen TAKHTAJAN gestaltet, welche dieser in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts publiziert hatte. Ein Umbau dieser Anlage war notwendig geworden, da sich im Zuge der modernen molekularsystematischen Forschung grundlegende Veränderungen in der verwandtschaftlichen Gliederung und Zuordnung vieler Pflanzen ergeben haben. Auch die durch Bäume und Sträucher zunehmend eingeschränkte Gesamtübersicht und der hohe Personalaufwand waren Argumente für einen Um- bzw. Neubau der Anlage.

300 Millionen Jahre Evolution der Pflanzen, dargestellt mit dem Modell der Phylogenetischen Uhr

Die Phylogenetische UhrDas neue 'System' wurde als 'Phylogenetische Uhr' konzipiert und gestaltet, die dem Besucher künftig einen interessanten Rundgang durch die Evolution und verwandtschaftliche Gliederung des Pflanzenreiches ermöglichen soll. Inhaltliche Grundlage der neuen Anlage sind die Vorstellungen eines internationalen, fast 30-köpfigen Forscherteams um den Engländer Mark CHASE (Angiosperm Phylogeny Group = APG), das sich seit etwa 15 Jahren mit der Phylogenie der Bedecktsamer befasst hat. Von der Angiosperm Phylogeny Group wurden insgesamt drei aufeinander aufbauende und korrigierte Entwürfe für die Gliederung der Bedecktsamer publiziert, wobei der dritte und letzte Entwurf (APG III) von 2009 als Abschluss des Projektes gilt. Danach werden die bedecktsamigen Blütenpflanzen gegenwärtig in insgesamt 60 Ordnungen und 413 Familien untergliedert. Parallel zu den neuen Erkenntnissen über die Gliederung des Pflanzenreiches haben sich auch die Vorstellungen über die Evolution der Pflanzengruppen weiter entwickelt. Wichtiges Hilfsmittel für diesen neuen Forschungszweig ist die so genannte 'Molekulare Uhr', mit deren Hilfe es möglich ist, den Zeitpunkt der Aufspaltung und das Alter verwandter Pflanzengruppen abzuschätzen. Die molekulare Uhr basiert auf der Erkenntnis, dass sich im genetischen Material (DNS) jeder Pflanzengruppe (Art, Gattung, Familie, Ordnung) im Verlauf ihrer Entwicklungsgeschichte in zunehmender Zahl Mutationen ansammeln. Da die Häufigkeit von Mutationen (Mutationsrate) aber von zahlreichen Faktoren abhängt, ist es wichtig, die Ganggeschwindigkeit der molekularen Uhr für jede Pflanzengruppe einzeln zu bestimmen und durch datierte Fossilien zu kalibrieren.

In Anlehnung an das Konzept der 'Molekularen Uhr' ist das neue System wie ein Zifferblatt gestaltet
Die kreisrunde und in vier Quadranten unterteilte Anlage beginnt dabei in der Null-Uhr-Position mit den ursprünglichsten Samenpflanzen, den Nacktsamern (= Gymnospermen). Beispielgebend für diese Gruppe kann der Ginkgo-Baum stehen, der als eines der ältesten 'Lebenden Fossilien' gilt. Auch die nacktsamigen Palmfarne (Ordnung Cycadales) sind urzeitliche Pflanzen, deren Blütezeit im Erdmittelalter (Mesophytikum, 240-140 Millionen Jahre) lag. Mit den Nacktsamern vereint finden sich die besonders urtümlichen zweikeimblättrigen Bedecktsamer, wie Seerosen, Magnolien- und Lorbeergewächse. Sie sind ebenfalls schon sehr früh, das heißt vor mehr als 100 Millionen Jahren entstanden.

Der zweite Quadrant (Drei-Uhr bis Sechs-Uhr) ist für die einkeimblättrigen Bedecktsamer (= Monokotyledonae) reserviert. Diese Gruppe hat sich nach den neusten Vorstellungen schon vor etwa 200 Millionen Jahren von den ursprünglichen Bedecktsamern abgetrennt und seither separat zu der heutigen Vielfalt von Gräsern, Palmen und Orchideen weiter entwickelt. Nach dem Ausflug in die Entwicklungsgeschichte der Einkeimblättrigen setzt sich in den Quadranten drei und vier der Gang durch die Evolution der zweikeimblättrigen Bedecktsamer (Dikotyledonae) fort. Dabei durchquert man in Quadrant drei zunächst das 'Mittelfeld' des Pflanzenreiches mit Vertretern wie den Rosenartigen und Schmetterlingsblütlern, bevor man in Quadrant vier das 'Oberhaus' des Pflanzenreiches erreicht. Hier finden sich die besonders hoch entwickelten und vergleichsweise jungen Pflanzengruppen, wie Dolden-, Lippen- oder Korbblütengewächse.

Auch bei der Gestaltung der Ordnungsbeete wurden völlig neue Wege eingeschlagen
Während frühere Systeme oft aus einer großen Zahl tabellarisch aufgereihter Beete bestanden und bei vielen Besuchern auf eine entsprechend geringe Akzeptanz gestoßen sind, verzichtet das neue System auf jegliche Formalisierung der Pflanzflächen. Stattdessen sollte eine Anlage entstehen, die sich durch eine möglichst große Vielfalt an grünen 'Erlebnisräumen' auszeichnet. Dazu soll der Versuch unternommen werden, jeder Pflanzenordnung eine bestimmte 'ökologische Identität' zu verleihen. So werden die Lippenblütler (Ordnung Lamiales) in einer mediterranen Felsheide gezeigt, für die Steinbrechartigen (Ordnung Saxifragales) wird eine kleine Steingartenanlage geschaffen und die Zwiebelpflanzen (Ordnung Liliales) finden ihren Platz in einem kargen Steppenbeet. Dazu kommen zahlreiche weitere gestalterische Elemente wie diverse Teich- und Sumpfbeete, Trockenmauern, Senkbeete und Pergolen. Auf diesem Wege soll sich das neue System zu einem attraktiven Gartenraum entwickeln, in dem die Vermittlung modernster Forschungsergebnisse und die Gestaltung eines spannungsvollen Gartenbildes eine harmonische Symbiose eingehen.

[DISA 01.2012, PDF, Text: Dr. Carsten Schirarend]





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